Leseproben Enni Wedekind
Schuld und Sühne?
Meine Herren Söhne waren so 15, 16 Jahre alt. Der Jüngere hatte ein Moped. Eine Simson, eine grüne. Ha, da fällt mir noch etwas ein.
Mit getauschtem Westgeld, wenn du es geschickt angefangen hast, konntest du es bis zu 1:12 tauschen. Ein Beispiel, ich ließ mir aus dem Westen 20 Taschenrechner und Uhren mitbringen, die kosteten dort nur wenige Mark. In einem An- und Verkauf hatten, gab ich zwei davon mit den nötigen Papieren in den Verkauf, so für 70 Ostmark. Glaube mir, der Staat kassierte so ca. 20 % und der Händler 15 %. Du sagst, dann blieb ja nicht viel? Falsch, wir tauschten die verkauften Dinge nur aus und kassierten dann ohne den Staat. Mit Kassettenrekordern und Autoradios machten wir das Gleiche. Aber da ging es pro Jahr nur einmal, die Gerätenummern wurden registriert und das wurde akribisch vom Zoll kontrolliert. Ja, so habe ich aus 150 Westmark 1500 Ostmark gemacht, die der Junge zum Geburtstag bekommen hatte.
Nun musst du dir nicht vorstellen, dass du mit dem Geld so einfach ein Moped kaufen konntest. Es gab ja nichts. Also fuhr er oft mit dem Fahrrad zu dem einzigen Händler der Stadt und fragte nach. Eines Abends kam er heim und sagte: „ Die haben drei Mopeds bekommen, die müssen noch montiert werden. Ich soll in drei Tagen wiederkommen“. Nach drei Tagen fuhr er voll Vorfreude hin und kam bitter enttäuscht zurück. „Sie sind verkauft“, sagte er traurig, das tat mir so leid, dass ich mich auf mein Fahrrad schwang und mit ihm zu dem Laden fuhr. Ich wartete auch nicht, bis ich an der Reihe war.
„So“, sagte ich laut,
„ich möchte, dass mein Sohn sofort ein Moped kaufen kann“.
„Haben wir nicht“, wurde geantwortet.
„Nein?“, fragte ich, „habt ihr nicht, wo sind die drei, die angeblich erst noch montiert werden sollten?“
„Verkauft“, sagte der Verkäufer und grinste mich an.
„Du bist ja ein richtiger Spaßvogel“, meinte ich,
"aber das akzeptiere ich nicht“, und sehr laut:
„Der Junge war jeden Tag hier, Ihr hättet ihm eine Maschine verkaufen können und den Abholtag festlegen können, das wäre ok gewesen, aber ich verstehe schon, er hatte nicht die richtige Währung oder ihm fehlten 10 Kilo Spargel? Oder bin ich vielleicht nicht in der richtigen Partei?
Morgen um 9:00 Uhr kommt der Junge und holt sich sein Moped ab, fix und fertig montiert und ein grünes bitte!“
„Ha“, rief schon ziemlich verunsichert der Verkäufer,
„was willst du machen, willst du mir drohen?“
„Ja“, antwortete ich.
„Sonst bin ich morgen mit der ABI (Arbeiter-und Bauerninspektion) hier und dann werden wir schnell wissen, wohin die drei Mopeds gegangen sind.“
Die inzwischen auf bis zu zehn Personen angewachsene Kundschaft klatschten Beifall und riefen:
„Richtig so, die stecken sich alles in die eigene Tasche, gut, dass mal jemand den Mund aufmacht usw.“
Wutschnaubend und den Tränen nah, verließ ich das Geschäft. Die ABI, das war eine gefürchtete Abteilung, die Missstände aufdeckte und ahndete. Am nächsten Tag fuhr mein Sohn gleich am Vormittag zu dem Geschäft und kam freudestrahlend mit einer grünen Simson zurück!
Ob ich Ärger bekommen habe, willst du wissen? Nein, habe ich nicht. Daran hatte ich auch in dem Moment nicht gedacht. Mit dem Moped erweiterte sich der Freundeskreis meines Sohnes. Und so komm‘ ich wieder auf die Russen zurück.
Eines Abends, es war schon dunkel, stürzte unser ältester Sohn, damals 17, atemlos in unser Wohnzimmer:
„Ist er hier, ist er heil nach Hause gekommen“, rief er aufgeregt, „sein Moped ist nicht in der Garage, hat er es hinten im Garten abgestellt?“ „Herrgott, was ist los, meinst du deinen Bruder?“
„Ja, meine ich.“
„Nein, er ist nicht hier“, antwortete ich.
„Dann muss ich noch mal los“, rief er und schon war er weg.
Ich war in hellster Aufregung, kann ich dir sagen. So hatte ich ihn noch nicht erlebt. Es dauerte bis in die Nacht, bis ich das Moped knattern hörte. Ein Stein fiel mir vom Herzen.
Wie oft habe ich danach auf dieses Geräusch gewartet!
Beide Jungs waren total aufgeregt und überschlugen sich mit den Schilderungen der letzten Stunden.
Alles begann an einem Dienstag vor einer Woche. Die Jungs fuhren mit ihren Mopeds durch die Stadt und der Weg führte an der Russengarnison vorbei. Es war eine lange gerade Straße und es war Hauptverkehrszeit, ja, tatsächlich, die hat es auch mit Trabant und Wartburg gegeben - und vielen Fahrrädern und Mopeds.
Berufsverkehr! Alles hechtete noch zu den Geschäften, um irgendetwas zu ergattern. Da wurde nicht gefragt, was essen wir heute Abend, nein, da wurde gefragt, was gibt es noch zu kaufen? Übermütig, wie 17-Jährige nun mal sind, knatterten sie die Straßen entlang. Vor einem Kumpel unserer Söhne fuhr ein Russen-LKW. Ohne zu blinken - hinterher stellte man fest, dass der Blinker kaputt war - bog dieser in Höhe der Kasernen urplötzlich nach links ab und ein Junge geriet mit seinem Moped unter den LKW und war sofort tot. Diese Geschichte war mir bekannt und wir haben mit den Eltern gelitten und unsere Söhne zu noch mehr Wachsamkeit aufgerufen.
Pünktlich zur gleichen Uhrzeit, nur halt eine Woche später, trafen sich an der Stelle, wo ihr Freund ums Leben gekommen ist, etliche Jugendliche. Sie setzten sich mit Kerzen auf die Straße, vor einer Russenkaserne wohlgemerkt, hatten einen Kassettenrekorder dabei und spielten nonstop das Lieblingslied des toten Freundes, „Rocky“. Es dauerte nicht lange, da saßen fast hundert Leute auf der Straße, alte, junge und halbe Kinder. Viele weinten, andere waren sichtlich wütend auf die Russen.
Du meinst, es war eine Demo?
Ja, das war eine Demo!
Das gab es ja eigentlich nicht in der DDR, Demos waren verboten!
Wozu auch, wir waren ja alle glücklich und zufrieden im Sozialismus!
Es war ein erster öffentlicher Widerstand, emotional und mutig.
„Das gibt es nicht, schlagt mit Knüppeln dazwischen“, riefen die linientreuen roten Brüder. Andere völlig fremde Personen versuchten die Genossen nicht auf die Straße zu lassen. Lange dauerte es nicht, da waren die Stasi und die Bereitschaftspolizei da und hieben wirklich mit ihren Gummiknüppeln dazwischen. Über dreißig Jungs nahmen sie mit, unsere Herren Söhne konnten rechtzeitig abhauen und hatten nun Angst um ihre Freunde. Wir haben die ganze Nacht nicht geschlafen, bei jedem Geräusch von einem Auto dachten wir:
„Jetzt sind sie da, jetzt holen sie unsere Söhne ab!“
Aber es ging gut. Am nächsten Tag, die Jungs waren natürlich unterwegs, wurden die Festgenommenen wieder frei gelassen. Wie schon bei anderen emotional gestrickten Vorfällen, trafen sich die meisten Mitglieder der Clique bei mir. Prügel hatten sie bekommen, ich habe etliche Blutergüsse auf Rücken, Armen und Beinen gesehen.
Am Freitag darauf sollte die Beisetzung stattfinden.
„Wir gehen mit“, das war der einheitliche Wunsch der Jungs.
„Gut“, sagte ich, wohl wissend, dass ich das nicht verhindern konnte, und auch nicht würde, „aber ihr zieht euch vernünftig an. Schwarze Cordhosen und dunkle Jacken. Keine Jeans mit Aufnähern drauf etc.“
Als sie losfuhren, war mir schlecht vor Angst. Sie hatten bewiesen, dass sie nicht mehr gewillt waren sich alles gefallen zu lassen, sie waren voll Trauer und Wut und sie hatten keine Angst. Nach einer Stunde waren sie wieder da! Der ganze Friedhof war von Stasileuten und Polizei abgeriegelt. Sie kamen überhaupt nicht in seine Nähe. Nach und nach kamen etliche Freunde der Jungs zu uns. Sie weinten und waren aggressiv, Pläne wurden geschmiedet und wieder verworfen. Ich konnte sie so gut verstehen, habe aber versucht die Gemüter zu besänftigen.
„Das bringt euch gar nichts“, sagte ich,
„ihr werdet festgenommen und landet im Jugendknast. Macht es anders, sprecht darüber und klärt eure Freunde auf, dass der Russe im Straßenverkehr und auch sonst immer das Recht auf seiner Seite hat.“
Es gelang mir, die Aggressivität abzuschwächen. Noch Stunden später waren etliche Jugendliche bei uns im Garten und ich merkte etwas. Ich merkte den Widerstand, ich spürte den Mut, die Verzweiflung und den Willen nicht mehr alles Hinzunehmen. Ich spürte, glaube ich, den Beginn einer Veränderung dieser noch so jungen Generation. Ihnen reichte es nicht mehr, die alte Jeans vom Cousin aus dem Westen aufzutragen, viel Geld für einen Farb- TV zu sparen, das Wissen, erst mit ca. 30 Jahren ein Auto besitzen zu können, drei Jahre zur NVA gehen zu müssen, um den Beruf zu erlernen, von dem sie träumten. Sie wollten nicht mehr in eigenen "Bruderländern" wie Ungarn, Bulgarien und Rumänien, Menschen zweiter Klasse sein, die zusehen mussten, wie die Westdeutschen, ja eigentlich die Klassenfeinde, bevorzugt wurden. Auf der einen Seite der Speiseräume saßen die Westler bei Säften, Pfirsichen, Bananen und anderen begehrten Speisen und auf der anderen Seite die aus dem Osten, bei Mukkefuk, Tee und ohne Südfrüchte!
Am Abend sagte ich zu meinem Mann:
„Du, die halten nicht mehr still. Da braut sich etwas zusammen, die haben nicht mehr die Angst in sich wie wir, sie wissen, sie haben nicht mehr, oder noch nicht, viel zu verlieren.“
Eine weitere Woche später war eine Jugenddisco. Die jungen Leute wollten trauern, sie wollten zusammen sein, zusammen fühlten sie etwas in sich, was sie bisher nicht kannten? Oder doch kennen sollten? Solidarität? Empathie? Widerstand? Mut? Stärke? Es wird wohl von allem etwas gewesen sein. Und sie lebten es! Meine Empfehlung, sammelt für die Eltern etwas Geld, das können sie besser gebrauchen als verwelkte Blumen auf dem Friedhof, wurde aufgegriffen, und so konnten sie noch etwas für ihre Trauerverarbeitung tun, etwas Friedliches.
Zum späten Abend kamen unsere Jungs heim. Völlig überwältigt und emotional am Rande ihre Belastbarkeit. Was war geschehen? Ich war total angespannt. „Stell dir vor“, sagte mein Sohn,
„wir wollten gerade eine Trauerminute einlegen und das Geld einsammeln, da standen auf einmal mehrere junge russische Soldaten mitten in der Diskothek. Über ihre Gesichter liefen die Tränen und in ihren Händen hielten sie ihren Sold von einem Monat, die kärglichen 30 Ostmark, und legten ihn in den Sammelkorb“. Totenstill war es geworden und alle sahen auf die besten Freunde des Verunglückten, darunter unsere Söhne, wie sie wohl reagieren. Sie waren von der Situation überwältigt und spürten aber auch ihr Gewaltpotenzial und das ihrer Freunde und machten, eher instinktiv als berechnend, das Richtige. Sie umarmten die jungen Russen und gaben ihnen die Hand.
Diese Geste hat sofort die Situation entschärft und man nahm nun die Russen als ebensolche Jungs wahr, wie sie selbst waren. Sie haben unwahrscheinlich viel Mut bewiesen, zu dieser Disco zu kommen. Auch das wussten die Anwesenden, die Russen haben damit den Hass kleiner gemacht, indem sie sich als genauso verletzlich und weich dargestellt haben, wie die Betroffenen. Dazu bedurfte es keiner Worte, jeder verstand und jeder war berührt.
Ob die Situation gestellt war oder nicht, wer weiß das schon. Sie war gut. Was glaubst du, was passiert wäre, wenn unsere Jungs sich provokant und anders benommen hätten? Es hätte geknallt, die Jungs waren emotional zwischen Trauer, Hass und Verzweiflung angesiedelt und Alkohol war auch im Spiel. Eine Zeitbombe! Ich könnte wetten, eine Hundertschaft der Polizei war in unmittelbarer Nähe. Und Russen verprügeln war kein Kavaliersdelikt, wie gesagt, sie hatten immer Recht!
Du fragst, wie ich die Russen erlebt habe, ja? Im Nachhinein kann ich das folgendermaßen beschreiben.
Als Kinder hatten wir Angst, geschürt von den Erwachsenen, berechtigte Angst vor berechtigter Wut von Menschen aus einem geschundenen Land. Später haben wir sie gehasst, sie waren allgegenwärtig mit ihren Panzern, Hubschraubern und den vielen Soldaten. Wenn man auf dem Güterbahnhof Waggons mit Kohlen, Bananen und anderen begehrten Artikeln sah, wer lud sie aus? Die Russen. Wer war fast unantastbar? Die Russen. Doch später, als meine Söhne so 16 waren, taten mir die Soldaten leid. Junge Russen, junge Menschen, sehr weit von der Heimat weg in einer der härtesten Armee der Welt, da regte sich Mitleid in mir. Nicht mit den protzigen Offizieren und ihren mit Goldzähnen und Pelzmänteln ausgestatteten Frauen, nein, mit den, wie wir sagten, „Moschkoten“, den einfachen Soldaten. Sie hatten ein Scheißleben, kann ich dir sagen. Ach da fällt mir noch etwas ein. Das muss ich dir erzählen.
Eine der Kasernen befand sich direkt neben einer Brauerei. Auf dem Hof stand kistenweise verdorbenes Bier in Flaschen. In der Nacht wurde ein Notruf abgesetzt, Polizei und Krankenwagen rasten zur Brauerei. Da waren doch tatsächlich ein paar russische Soldaten über die Mauer geklettert und haben das Bier ausgetrunken. Nun lagen sie, sich vor Bauchschmerzen windend, auf dem Gelände der Brauerei. Oben und unten kam alles raus, besoffen waren sie auch, eigentlich alles in allem hilflose Bündel Menschen. Die ganze Stadt hat sich darüber amüsiert, das kannst du dir sicher denken.
Eine Nachbarin von uns hatte sich in dieser Zeit mit einem russischen Ehepaar angefreundet. Er war ein Offizier, Sascha, sie arbeitete als Verkäuferin im Russenmagazin. Eine begehrte Verkaufsstelle, wo sich nur wenige Deutsche hin wagten. Aber es gab dort Ölsardinen, Thunfisch in Öl und russisches Konfekt. Auch ab und zu Mandarinen und Orangen. Beide Frauen machten sehr gern Handarbeiten und so besorgte die eine etwas und die andere auch. So häkelten und strickten sie gemeinsam wunderschöne Sachen. Manchmal hielt bei den Nachbarn ein Russen – LKW und Sascha kam mit. Der einfache Soldat, der Fahrer, durfte nicht mit aussteigen. Er wartete geduldig im Auto, bis die Fahrt wieder zur Kaserne ging. Manchmal stundenlang. Sascha brachte immer etwas mit, ein mit Schrotkugeln durchsiebtes Reh, ein Fass voll Benzin, Dinge eben, die es bei uns schlecht gab. Bei einer Familienfeier waren sie auch zugegen und es war ein amüsanter Abend. Aber was wir bis dahin nicht ahnten, persönliche Freundschaften von Russen, die hier als Besatzungsmacht waren, mit DDR Bürgern, waren alles, nur nicht erwünscht. Die Begegnungen sollten gesteuert und kontrollierbar sein. Treffen mit Schulklassen, sportliche Wettbewerbe im Fußball und anderen Sportarten. Gemeinsame betriebliche Veranstaltungen. Sie wurden als unsere Freunde, als unsere Befreier betitelt. Besser gesagt, sie wurden uns schmackhaft gemacht, sie wurden uns aufgedrückt. Aber unsere wirklichen Freunde sollten sie nicht sein, nicht etwa so, wie ich das eigentlich unter dem Begriff einordne. Sie sollten unsere Unzufriedenheit nicht sehen, sollten keinen Zugang zum westlichen Fernsehen, den wir in unserem Gebiet ja hatten, bekommen. Sie sollten uns nicht mögen, sie sollten uns beherrschen. Sie waren ja die Sieger!
Eines Tages kam meine Nachbarin weinend zu mir und erzählte mir, dass man Sascha nach Sibirien geschickt hatte. Seine Frau und die Kinder hatte man vor der Kaserne regelrecht ausgesetzt. Ohne Geld, ohne Fahrkarten ohne jeglichen Schutz. Die private Freundschaft und die enthaltenen Mitbringsel waren wohl zu viel geworden. Wir sammelten bei gleichgesinnten Leuten Geld, so dass die Familie sich Fahrkarten bis nach Brest kaufen konnte. Da sollte der Vater sie dann wohl abholen. Ja, du hörst richtig, man hat sie, vor allem Sascha, sehr hart für diese Kontaktaufnahme mit uns bestraft. Da waren die Russen knallhart und ohne Rücksicht. Wir haben nie wieder etwas von Sascha und seiner Frau gehört.
Enni Wedekind